Rezension

Das verborgene Volk

Mit „Das verborgene Volk“ ist nun der vierte Band aus dem Nachlaß Hans-Dietrich Sanders bei Arnshaugk erschienen.

„Es kennzeichnet die Deutschen, daß bei ihnen die Frage Was ist deutsch? niemals ausstirbt“, gehört inzwischen zu den abgeschmacktesten Nietzsche-Zitaten. Diese Frage befand sich zu oft in der Erbpacht der Romantiker. Doch der unter dem Titel „Das verborgene Volk“ herausgegeben Sammelband ist trotz dreier kurzer Texte, in denen der ehemalige Theaterkritiker sein eigenes dramaturgisches Talent versuchte, kein Geraune aus den romantischen Fluchtorten der Machtlosigkeit. Wie auch Sander selbst, trotz mancher poetischer Allüren, alles andere als ein Romantiker war. Das „verborgene Volk“ ist kein „geheimes Deutschland“ verseklopfender Kreisdenker.

Sind die Deutschen noch ein Volk?

Die Texte stammen fast alle aus den 90er Jahren und verarbeiten die Nachwendezeit. Einiges, vor allem ein sehr lesenswerter Text über die Amnestie nach politischen Umstürzen, ist immer noch bedeutsam. Doch das meiste könnte uns nur noch historisch interessieren, wenn die Wiedervereinigung nicht so erbärmlich ausgefallen wäre. Das heutige Deutschland ist ohne diese Erbärmlichkeit nicht zu verstehen. Sander zog Bilanz: Die Wiedervereinigung erwies sich als bloße Eingliederung der DDR in die BRD. Nichts mehr.

Die nationale Wiedergeburt blieb aus, die Kraft des Herbstes von 1989 ließ sich von der Bonner Administration in einen Verwaltungsakt kanalisieren und nach Brüssel ablenken. Vor diesem Hintergrund fragte Sander: Wie konnte das passieren? Es war das Ereignis eingetreten, das er und viele andere der patriotischen Opposition seit Jahren herbeigesehnt hatten – in den 80ern war man auch in der Union ein Rechtsaußen, wenn man die deutsche Teilung nicht als einen Dauerzustand anerkennen wollte – ohne daß das Erhoffte dann auch geschah.

Dabei schrieb Sander den Sturz der SED den Mitteldeutschen selbst zu und verwahrte sich eindeutig dagegen, die Wiedervereinigung sei ein Geschenk von Russen und Amerikanern gewesen. Das große Paradox, vor dem er stand, war, wie dieser Kraftakt so einfach verpuffen konnte.

Sind die Deutschen überhaupt noch ein Volk? Alle, die heute in irgendeiner Weise widerständig oder bürgerbewegt sind, mögen aufpassen, daß sie sich nicht bald dieselbe Frage stellen.

Kriegsgeneration und postfaschistische Intelligenz

Die konservative Standarderklärung für alles, was in diesem Land schiefläuft, war damals und ist zum Teil noch heute: Die 68er waren es. Sander, der wegen seiner Herkunft von Marx und Brecht in den konservativen Kreisen der alten Bundesrepublik nicht immer wohl gelitten gewesen war, gab sich mit diesem Verweis auf die ungezogenen Kinder nicht zufrieden.

Er bestritt, daß es jemals eine Bundesrepublik gegeben habe, die nicht auf der schiefen Ebene gebaut gewesen war und zerschlug dabei konservatives Porzellan. Zuvorderst ging es der Kriegsgeneration an den Kragen, präziser gesagt: den Überlebenden. Nachdem die Besten gefallen waren, sei sie zwar noch zum wirtschaftlichen Wiederaufbau fähig gewesen, verzog sich aber bewußt in ein Privatleben, der die öffentliche Betätigung jenseits wirtschaftlicher Interessenvertretung suspekt war.

Vorneweg marschierte bei diesem Rückzug, was Sander die „postfaschistische Intelligenz“ nannte. Die Überlebenden der konservativen Revolution. Die Schmitts und Jüngers, Benns und Heideggers und Gehlens, die sich nach 1945 in die Resignation zurückzogen, nicht ohne die morbide Würze, das eigene Scheitern mit dem nationalen Untergang in eins zu setzen. „In der Bennschen Perspektive des ‚Dunkeln, Altern, Aprélude‘ verschmolz bei diesen Geistern hermetisch persönliches und nationales Schicksal.“

Das verborgene Volk

Was hat es also mit dem „verborgenen Volk“ auf sich? Das verborgene Volk ist keine machtlose Geistestradition, kein Bildungskanon und keine Floskel für Sonntagsreden, sondern ein sehr einfacher Ausdruck für die Hoffnung, daß im deutschen Volk noch genug Kraft vorhanden ist, um eine politische Wende zu erreichen.

Genauer: Dass der Alltagsanschein des Bundesbürgers noch nicht das letzte Wort über die Zukunftsfähigkeit der Deutschen ist. Diese Hoffnung bildet die Grundstimmung dieses Buches, das in Teilen der politischen Theologie zuzurechnen ist. Es ist ein Bekenntnis des „Trotz alledem“, das auch mit der Wandelbarkeit menschlicher Zustände noch rechnet.

Hans-Dietrich Sander: Das verborgene Volk, Arnshaugk, 2018, 224 Seiten, gebunden. 24,00 Euro

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